06 Leseproben
Geschenke zur Weihnacht
Es war einmal ein kleines Dorf, das lag am Fuß eines Berges. Oft kamen Gäste von weit her, um den Berg zu überwinden und dann in Richtung Hauptstadt weiterzureisen. Sie nahmen dazu die Postkutsche des Postkutschers oder ihre eigenen Pferde oder, wenn diese müde waren, tauschten sie sie beim Pferdehändler ein. Der Pferdehändler machte so manches Geschäft mit ein paar Pferdedieben, hieß es, aber sicher war das nicht. Der Wirt zur goldenen Stimmgabel machte sein Geschäft mit den speisenden und übernachtenden Gästen, soviel war sicher. Oft erzählten die Gäste dann von Ländern weit weg, mit Reichtümern und Prinzen und wunderschönen Frauen, die jedoch nie jemand zu Gesicht bekam. Wenn sie erzählten, dass saßen die Männer und Frauen des Dorfes versammelt in der Goldenen Stimmgabel, aßen und tranken. Und wenn es später wurde, dann erhoben sie ihre Stimmen und sangen. Sie sangen, was Kehle, Brust, Bauch und Nasennebenhöhlen hergaben. Sie machten sich weit und ließen die Engelschöre in sich hinein, die dann aus ihnen hinaustönten, dass die Scheiben sanft klirrten. Zumindest erzählt man sich das so. Ja, die Wirtsleute und der Pferdehändler konnten singen. Ebenso die Korbflechterin, der Schmied mit den stets wie angegossen passenden Hufeisen, der Glasbläser mit den winzigen Fabelfigürchen, das Bäckerehepaar, der Sattler und die Weberin, die geflüsterte Wünsche mit einflocht, sagte man, die, wenn sie sich dann erfüllten, längst vergessen gewesen und die Erfüllung auch nicht mehr gewünscht war. Aber das ist eben eine komplizierte Sache mit dem Wünschen, wie wir alle wissen. Ein Mann aus dem Dorf war bei dem Zusammensein mit den Gästen in der Goldenen Stimmgabel nie dabei. Es war der Fischhändler. Das heißt, nie stimmt nicht ganz. Einmal nämlich war er über die knarrende Wirtshausstufe gestiegen und in die Stube gekommen. Da waren alle Gespräche verstummt und alle hielten die Luft an. Das hatte einen guten Grund: Der Fischhändler stank nämlich nach Fisch. Manch einer erzählte später, der Fischhändler habe einen Bottich verdorbener Fische dabeigehabt, aber das gehört nun sicher ins Reich der Fabeln und Märchen. Verbürgt hingegen ist, dass der Wirt ihn hochkant hinauswarf und der Pfarrer am nächsten Tag bei ihm vorstellig wurde, um ihm zu sagen, er müsse es einsehen, er passe nun mal einfach nicht in die singende Gemeinschaft. Er könne schlicht und einfach nicht singen. Der nächste Winter brachte viel Schnee. Die Reisenden hatten das Reisen eingestellt, und der Schnee verschluckte zusätzlich jedes noch so kleine Geräusch. Da kam von weither über den zugefrorenen See das helle Klingeln tausender Glöckchen. Lustig klangen sie und himmlisch schön. Sofort sprangen die Kinder zu ihren Schuhen, die Jacken vergaßen sie, und rannten hinaus. Da, vor der Kirche, hielt eine Kutsche. Sie blinkte und glitzerte, und das war nicht der Schnee. Die vielen Schellen glänzten in der Wintersonne. Vor der Kutsche angespannt waren acht Rentiere. Die Kinder hatten noch nie Rentiere gesehen und gingen zaghaft hin, um sie zu streicheln. Ihr Fell dampfte, und auch sie waren prächtig geschmückt. Auf der Kutsche saß ein Mann mit einem weißen Bart und einem imposanten roten Mantel. Ob es tatsächlich der Nikolaus gewesen ist, lässt sich nicht sagen. Es spielt für unsere kleine Geschichte aber auch keine Rolle. In jedem Fall hieß er die Kinder aufspringen und die Rentiere antraben. Dann fuhr er vorbei am Haus des Pfarrers. Vorbei an dem des Pferdehändlers. Vorbei auch an dem des Glasbläsers und des Bäckerehepaars. Nachdem er auch am Wirtshaus zur goldenen Stimmgabel vorbei war – der Wirt hing, wie alle anderen auch, innen am Fenster und staunte –, kam er zum Haus des Fischhändlers am Ende des Dorfes. Der Fischhändler öffnete perplex, er und der Fremde wechselten ein paar Worte, der Fischhändler nickte, und dann trugen der Fremde, der Fischhändler und die Kinder das, was der Fremde geladen hatte, in das Haus des Fischhändlers. Geschenke waren es, das konnte man auch hinter den geschlossenen Gardinen genau erkennen. Blaue, gelbe, rote, grüne, große, mittlere, kleine. Und vor allem sehr, sehr viele! Die Dorfbewohner staunten. Sie hatten gar nicht gewusst, dass der Fischhändler so ein großes Haus hatte! Genau genommen, überlegten sie sich, hatten sie sein Haus ja auch nie betreten. Ob das an ihnen lag oder am Fischhändler? Sie überlegten. Währenddessen luden die zwei Männer und die Kinder weiter aus, und dann – das mussten alle übrigen Dorfbewohner beschämt eingestehen – müssen sie wohl eingenickt sein, ein kräftiges Nickerchen muss das gewesen sein, denn als der Fremde die Bremsen löste und klingelnd davonfuhr, da, ja, da hat er die Kinder einfach mitgenommen! „Entführt hat er sie, jawohl!“ „Bestraft gehört er, und der Fischhändler gleich mit!“ „Was ist überhaupt mit dem Fischhändler, wo ist er überhaupt?!“ „Ihr könnt ihn ja aufsuchen“, war da eine feine Frauenstimme in der Mitte der im Wirtshaus Versammelten zu vernehmen. „Du?“, fragten sie erstaunt und sahen die Weberin an. „Ich wohne gegenüber“, sagte sie, es klang wie eine Entschuldigung. „Vielleicht keine schlechte Idee“, sagte der Pfarrer. „Erst reden, dann urteilen.“ „Gut, ich geh hin, hab ja keine so empfindliche Nase“, murmelte der Schmied, und dann lauter: „Wer kommt mit?“ Die Bäckersleute meldeten sich, auch der Glasbläser und der Wirt. Letztendlich kamen alle Erwachsenen mit. „Wo sind unsere Kinder?“, polterte der Wirt, noch ehe der Fischhändler richtig geöffnet hatte. „Kinder?“, fragte der Fischhändler ganz offensichtlich verwirrt und rieb sich die Augen. „Na, hast du etwa geschlafen während des Tages?“, fragte empört-ironisch der Bäcker. „Ich habe tatsächlich geschlafen!“, antwortete der Fischhändler ehrlich erstaunt und blicke sich um. „Ich habe geträumt, da sei jemand mit klingenden Glöckchen und Geschenken vorgefahren und wir hätten sie ins Haus geräumt. Nur, so groß ist mein Haus ja gar nicht…“, jetzt klang der Fischhändler endgültig verwirrt. „Das hast du nicht geträumt. Der Fremde war wirklich da und hat die Kinder mitgenommen“, erklärte der Pfarrer. „Aber was…?“, versuchte der Fischhändler, dann klappte er den Mund zu. „Was hat der Fremde denn zu dir gesagt?“, fragte die Weberin. Anfangs noch unsicher, erzählte der Fischhändler immer überzeugter und froher: „Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern. Doch… er sagte, er sagte: Wir müssen warten, Geduld haben und warten, denn dass Wünsche wahr werden, daran muss man fest glauben! Und wir müssen zusammenstehen. Alle“, der Fischhändler sagte es beschämt, denn gemeint war damit ja er. Alle schwiegen. Schließlich räusperte sich der Fischhändler und sagte: „Kommt doch herein! Der ganze Schnee, die Kälte… kommt doch bitte herein!“ Dem Pfarrer fiel keine Gegenrede ein, dem sonst so zungenfertigen Wirt auch nicht. Und so zogen sie ihre Stiefel aus und traten ein. Sie stellten fest, dass die gute Stube genau für sie ausreichte. Der Fischhändler ließ es sich nicht nehmen, Zauberlachs, wie er ihn nannte, zuzubereiten. Und während es in der Küche briet und brutzelte, da fing der Fischhändler auf einmal zu singen an. Erst nur einzelne, gesummte Töne, dann ein ganzes, wunderschönes Lied. Traurig war es, und doch stark und leicht. Die anderen wippten mit, begannen und summen, schlossen die Augen, und dann brach es aus Brust, Bauch, Kehle und Nasennebenhöhlen heraus. Ein Engelsgesang musste das sein! Die Weberin aber webte mit den Händen nach einer uralten, überlieferten Technik, wie sie mal erzählt hatte, und vielleicht hat sie ja das Lied und den Wunsch der Dorfbewohner in das Tuch eingewebt. Jedenfalls, sie wusste selbst nicht warum, aus einem spontanen Impuls heraus schenkte sie am Ende des Tages das Tuch dem Fischhändler. Als Dank für seine Gastfreundschaft, für den leckeren Fisch, für seine Ehrlichkeit. Der Pfarrer sagte, als schon alle im Gehen begriffen waren, „und warten sollten wir, hm?“, der Fischhändler nickte. „Hast doch ne ganz passable Stimme“, nickte der Pfarrer und der Wirt grunzte zustimmend, während die anderen nickten, und sagte: „Bariton. Eindeutig Bass-Bariton.“ Und dann kam der Advent. Um sich gegenseitig mit Mut und Zuversicht zu beschenken, trafen sich die Dorfbewohner abends und aßen, erzählten – und sangen, jeden Tag im Hause eines anderen. Als es auf den 24. zuging, sagte die Weberin: „Der Fischhändler, wir waren noch nicht beim Fischhändler.“ Keiner widersprach. Am nächsten Abend klopften sie beim Fischhändler, und am Ende des Abends mussten sie zugeben, dass Fischgestank doch etwas rein Subjektives sei. Als sie dann am 24. in der Kirche versammelt waren und mit einem dicken Kloß im Hals auf die wunderschöne Krippe mit dem Jesuskind schauten, hoben sie ihre Stimmen und sangen, anfangs krächzend, „Ihr Kinderlein, kommet!“ Und tatsächlich, knarrend öffnete sich das Kirchenportal und die Kinder waren wieder da! Von den Erwachsenen nach den zwischenzeitlichen Ereignissen befragt, zuckten sie die Schultern und sagten, sie hätten eben gespielt und dabei die Zeit vergessen. Dann fragte das jüngste von ihnen: „Und wo ist der Fischhändler?“ Nach dem Gottesdienst, den der Pfarrer etwas abkürzte, gingen alle zusammen zum Haus des Fischhändlers. „Du warst gar nicht beim Gottesdienst“, sagte der Pfarrer, es klang fast vorwurfsvoll. „Ich… hatte noch zu tun“, murmelte der Fischhändler. Dann sah er die Kinder, breitete die Arme aus und sagte: „Willkommen, kommt rein!“, und den Erwachsenen blieb nichts anderen übrig, als ihnen zu folgen. Es wurde das schönste Weihnachten seit langem. Dann kam der Fischhändler mit den Geschenken. „Ich gebe sie nur weiter“, sagte er bescheiden und reichte ihnen blaue, rote, gelbe, grüne, große, mittlere, kleine. Bei jedem Geschenk hielt er vor dem Überreichen inne und hielt kurz eines seiner sehr großen Ohren daran. Lächelnd übergab er dann der Weberin das letzte und größte und goldene Paket. Diese errötete leicht und öffnete es, wie die anderen auch – Neugier und Vorfreude waren einfach zu groß. Es müssen wohl Töne gewesen sein, die den Paketen entschwebten. Helle, dunkle, große, kleine Töne, die sie aufgriffen und verwandelten. Aber zum Lied wurden sie erst, als der Fischhändler sich zu ihnen stellte und seinen Ton beisteuerte, den er aus dem Tuch der Weberin hatte oder sonst woher. Beim Fischhändler konnte man das nie so genau wissen. Als die Weberin ihre goldene Stimmgabel ausgepackt hatte, schlug sie einen Ton an, so fein, dass nur sie ihn hören konnte, und gab ihren Ton vor für das Lied, das sie dann sangen, während sie ihre Kinder in die Mitte nahmen: „In dulci jubilo, nun singet und seid froh!“
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